Der große Carl Lewis ist DER Mann der Olympischen Spiele 1984. Foto: imago images / ZUMA Wire

Sportart: 

Leichtathletik

Anlass: 

Olympische Spiele der XXIII. Olympiade

Ort: 

Los Angeles Memorial Coliseum

Datum: 

Finale 100 m: 04. August 1984
Finale 200 m: 08. August 1984
Finale Weitspr.: 06. August 1984
Finale 4×100: 11. August 1984

Ergebnisse: 

Gold 100 m in 9.99 Sekunden
Gold 200 m in 19,80 Sekunden
Gold Weitsprung mit 8,54 Meter
Gold 4×100 in 37,83 Sekunden

Olympiasieger:

Carl Lewis (USA)

Wenn man auf die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles zurückblickt, muss man sagen, dass es keinen passenderen Ort hätte geben können für einen Mann, der die Gallionsfigur dieser Spiele von L.A. war. Carl Lewis erfüllte sich, unweit der Glanz- und Glamourwelt Hollywoods, seinen Kindheitstraum – mit seinen 23 Jahren gerade eben erst der Kindheit entsprungen.

„Dabei sein ist alles“ lautet ein weit verbreitetes Motto unter Sportlern, die die Ehre haben, an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können oder zu dürfen. Sportler aus den Ostblockstaaten, mit Ausnahme der Athleten aus Rumänien, wollten, durften 1984 aber nicht. Für Carl Lewis galt dieses Motto in keinster Weise. Der Modellathlet vom Santa Monica Track Club nahm sich dem bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris vorgestellten Motto „Citius – Altius – Fortius“, was soviel bedeutet wie „Schneller – Höher – Stärker“ an und verinnerlichte es wie kein anderer Sportler sonst. Er wollte nicht einfach nur teilnehmen. Er wollte dominieren, siegen und all seine Konkurrenten beherrschen. „Carl hat sich schon immer klare Ziele gesetzt, die er mit viel eiserner Disziplin erreichen wollte“, beschreibt sein Manager Joe Douglas die Triebfeder, die den Superstar unter den Track&Field Athleten während seiner gesamten Laufbahn angetrieben hat.

Vielleicht muss man 48 Jahre zurückschauen, um die gewaltige Offensive der amerikanischen Medien mit Carl Lewis als Hauptdarsteller der Olympischen Sportwelt zu verstehen. Damals, im Jahr 1936, hatte der farbige US-Leichtathlet Jesse Owens bei den Olympischen Spielen in Berlin das Kunststück vollbracht, 4 Goldmedaillen zu gewinnen. Über die Königsdisziplin, den 100 m, den 200 m, dem Weitsprung und in der 4×100 m Staffel stand er ganz oben auf dem Olymp. Für viele galt diese Leistung als unerreichbar. Nicht so für Carl Lewis. „Ich gewinne 4 Goldmedaillen in Los Angeles. Es gibt niemanden, der mich schlagen könnte“, ließ Lewis im Vorfeld der Spiele verlauten. „Alles, was man über mich sagt, all der Ehrgeiz meiner Gegner mich zu schlagen, all das beunruhigt mich nicht, sondern motiviert mich noch mehr. Sie werden alle die Gelegenheit haben zu zeigen, ob sie mich wirklich schlagen können. Ich weiß, dass das nicht möglich ist“, ergänzt der vor Selbstbewusstsein strotzende Jüngling.

„Go for Gold“ war nicht genug

Die berühmte Beckerfaust. - Foto: imagos images / Colorsport

Carl Lewis gewinnt 4 Mal Gold bei Olympia in L.A. und zieht mit Jesse Owens gleich. – Foto: imagos images / Werek

Doch seinen großen Worten hat er bereits große Leistungen vorangestellt. Als Nummer 1 der Welt im Weitsprung und über 100 Meter kommt Lewis nun nach Los Angeles. Zudem wurde er 1983 bei den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Helsinki 3x Weltmeister über 100 m, im Weitsprung und mit der 4×100 m Staffel. Bei den Olympic Trials, den nationalen Ausscheidungswettkämpfen der USA sicherte er sich als erster Leichtathlet seit Malcolm Ford im Jahre 1886 ebenfalls 3 Siege in den 100 Metern, den 200 Metern und im Weitsprung. Zu Beginn des Jahres ´84 stellte er mit 8,79 Meter einen neuen Weltrekord im Weitsprung in der Halle auf. Die Vorschusslorbeeren, die Erwartungen sind nur allzu verständlich, vielleicht sogar ohne Abstriche zulässig, um die bereits gezeigten Leistungen zu würdigen. 

Die US-Medien beließen es nicht beim „Go for Gold“ während der Spiele von L.A.. Sie hatten Größeres vor mit Carl Lewis. Schließlich hatte der amerikanische Fernsehsender ABC knapp 225 Millionen US-Dollar für die Übertragungsrechte gezahlt, sich somit sozusagen ein Recht auf „neue“ Helden eingekauft. Natürlich hatten sich die TV-Macher dafür Carl Lewis ausgesucht. Die Spiele hatten noch längst nicht begonnen, da wurde der Mann, dessen Selbstbewusstsein von den eigenen Fans im Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Arroganz ausgelegt wurde, als Vorzeigesieger präsentiert und in TV-Spots durch die amerikanischen Wohnzimmer gesendet. Gold war programmiert, doch auch das reichte noch nicht. Bereits nach der WM in Helsinki warb NBC in Werbespots mit Lewis: „Auf den Spuren von Jesse Owens“ und kurz vor Beginn der Spiele der 23. Olympiade in Los Angeles wurde mit dem Slogan „Lewis wird Beamons Rekord brechen“ die Erwartungshaltung ins Unermessliche, fast schon in unmenschliche Bereiche gehoben.

Carl Lewis hingegen hatte seinen eigenen Kopf, durchlebte in den Tagen vor dem Beginn der Wettkämpfe im Los Angeles Memorial Coliseum seine eigenen Vorstellungen, was für ihn erfolgreich sei und was nicht. Und vor allem hatte Lewis klare Vorstellungen davon, wie er seine Goldpläne auch wirklich in die Tat umsetzen kann. Dazu gehörte, dass er zwar in einem der insgesamt 3 Olympischen Dörfer in L.A. eincheckte, sich dann aber vollkommen zurückzog und in ein Haus am Rande der Stadt zog, um sich voll konzentrieren zu können, damit der Traum von 4 Goldmedaillen Wirklichkeit würde. Der Umzug in ein anderes Quartier gefiel den Offiziellen nicht, dieses war „King Carl“, einer der fast unzähligen Spitznamen des Meisters der Tartanbahn, aber gleichgültig. Es zählte nur, was er für richtig hielt.

Die goldene Mitte durch Sri Chinmoy

Lewis ging andere Wege als viele Konkurrenten, er betrat oftmals Neuland bei dem was er tat. Um dem Druck ein wenig Herr werden zu können, traf sich Lewis in den Wochen vor L.A. mit dem indischen Guru Sri Chinmoy in New York. Diese Treffen des Gedankenaustausches und der Meditation sollten für Lewis auch für den weiteren Verlauf seiner Karriere von enormer Bedeutung sein. „Ich habe durch Sri Chinmoy gelernt den goldenen Mittelweg zu finden. Bewusstes Atmen und Meditation helfen mir meine Seele neu zu entdecken“, so Lewis, der dadurch vermeiden wollte, durch emotionale Extremsituationen aus der Bahn geworfen zu werden. Akribisch wurde nichts dem Zufall überlassen. Gold war alles was zählte.

Nun marschiert Lewis als größte Hoffnung der Amerikaner am 28. Juli 1984 bei der Eröffnungsfeier ins Coliseum ein und geht in Gedanken seine Pläne durch. Die Gedanken an sein Idol Jesse Owens kommen hoch, er erinnert sich wieder an die Worte „Hab einfach Spaß“, die ihm der große Owens mit auf den Weg gab, als er als kleiner 10-jähriger Hempfling einen Weitsprung-Wettbewerb unter den Augen Owens gewinnen konnte. Und als Gina Hemphil, die Enkelin von Jesse Owens, mit der Olympischen Fackel in der Hand ins Stadion eingelaufen kommt, da scheint sich der erste Kreis zu schließen. Es musste so sein: Das sind die Spiele von Carl Lewis auf den Spuren von Jesse Owens.

Am 03. August ist es dann endlich soweit. Die Sprinter greifen im Coliseum ins Olympische Geschehen ein. Die Vor- und Zwischenläufe über 100 Meter stehen auf dem Programm. Carl Lewis hat in seinen Läufen keine Probleme und siegt im Vorlauf mit 10,32 Sekunden und im Zwischenlauf mit 10,04 Sekunden. Die erste Anspannung vorüber, gezeigt, dass er auf dem richtigen Weg ist. Obwohl die Zuschauer, Fans und Medienvertreter ihn am liebsten einverleiben würden, bleibt Lewis auf Distanz. Er wirkt auf alle Außenstehenden unnahbar. War Jesse Owens das Massenidol, das von allen geliebt wurde, baute sich um Lewis herum eine Wand auf, die Fans nicht bereit waren einzureißen. Seine Leistungen wurden anerkannt, Liebe entwickelte sich keine. Pressekonferenzen mit ihm waren eine sehr unpersönliche Angelegenheit. Die Journalisten bekamen Pressemitteilungen oder diktierte Bänder, vom Held selber besprochen. Aus seiner Sicht mag das sogar alles verständlich wirken. Volle Konzentration um eigene Ziele und fremde Erwartungen zu erfüllen.

„Hey King, Go Carl“

Nur einen Tag später wartet das Semifinale. 10,14 Sekunden vor dem Kanadier Ben Johnson, der als Zweiter mit 10,42 Sekunden ins Finale einzieht. Um 19:10 Uhr blicken dann knapp 92.600 Zuschauer auf die Bahn. Mit der Startnummer 915 bereitet sich Lewis auf Bahn 7 auf den bis dato wichtigsten Lauf seiner Karriere vor. Der Druck ist enorm. In knapp 10 Sekunden kann der Traum weitergehen, oder aber er ist bereits nach 400 gelaufenen Metern geplatzt. Bei knapp 23 Grad Celsius warten 8 Starter dieses Finales auf die Startkommandos. Lewis steht hinter seinem Startblock, die Hände in die Hüften gestemmt. Sein Blick wirkt starr und konzentriert, er fokussiert die Bahn, das Ziel. Immer wieder lockert er sein rechtes Bein und seine Zunge befeuchtet seine Lippen. Alle Augen auf den Mann, der vollmundig seine Siege nicht nur angedeutet, vielmehr versprochen hat. Doch Lewis fürchtet nichts mehr als die 100 Meter. Ein kleiner Fehler und alles ist verloren. Einige Zuschauer, die am Rande der Bahn stehen, rufen „Hey King, Go Carl“ und Lewis reagiert, verlässt für einen Augeblick seinen „Tunnel“ und winkt in die Menge. Im Publikum hat „King Carl“ die für ihn wichtigsten Menschen, die ihm die Daumen drücken. Seine Eltern, William und Evelyn Lewis, und seine Freunde sind gekommen, um „ihren“ Carl anzufeuern.

„Ready for Start“, der Herr im blauen Jacket, mit Sonnenbrille und Starterpistole beginnt. Die Läufer hocken sich in die Startposition, letzte Dehnübungen bei Lewis. Ein Schuss und der Start ist freigegeben. Mit einer Reaktionszeit von 0,177 Sekunden begibt sich Lewis auf seine goldene Reise. Nicht verwunderlich, dass nach wenigen Metern andere Sprinter die Nase vorne haben, Lewis liegt zurück. Bei 40 Metern, 45 Metern sind Sam Graddy (USA) und Ben Johnson (CAN) auf Gold- bzw. Silberkurs. Doch nach ¾ des Rennens kommt, was kommen musste und was alle Konkurrenten fürchten. Lewis fletscht die Zähne, erreicht seine Höchstgeschwindigkeit, während alle anderen schon wieder Tempo verlieren. Bei knapp 70 Metern ist Lewis gleich auf und zieht unaufhaltsam an seinen Gegnern vorbei. Als würde er vorbeifliegen siegt er in 9,99 Sekunden und 0,2 Sekunden Vorsprung vor Sam Graddy und Ben Johnson. Der größte Vorsprung in einem Olympischen 100 Meter Finale. Der Sieger reißt die Arme hoch, lacht freudetrunken und hüpft im Zielbereich herum wie ein kleines Kind. Teil 1 ist geschafft. Sein Kindheitstraum geht weiter.

Auf den Rängen hallen „USA, USA“ Sprechchöre durchs Coliseum. Graddy und Lewis klatschen sich kurz ab. Als Lewis eine große USA-Fahne entdeckt, läuft er auf die Tribüne zu, schnappt sich die Flagge und begibt sich auf die Ehrenrunde. Da bei diesen Olympischen Spielen das Drumherum so stark beleuchtet wurde, wie sonst noch nie bei einem Sportevent, fand die angesehene „Los Angeles Times“ heraus, wer der Glückliche Flaggenspender war. Sein Name: Tucker, aus New Orleans, 50 Jahre mit einem Ticket in Reihe 2 Sektion 27 im Los Angeles Memorial Coliseum. Die Zeitung wusste auch zu berichten, dass er seine Fahne nach der Ehrenrunde zurück bekam.

Als Minimalist zu Gold

Lewis´ Mission wurde mit dem Weitsprung und der Qualifikation am 05.08. fortgesetzt. 31 Teilnehmer versuchten sich am Limit zum Erreichen des Endkampfes von 7,90 Meter. Für Lewis eine Leichtigkeit. Seine 8,30 Meter sind mehr als ein kleiner Fingerzeig. Am Tag darauf kommt das Finale. Es sollte ein Tag werden, der die Beziehung zwischen Fans und Carl dem Großen nachhaltig beeinflussen würde. Und zwar auf Jahre. Lewis hatte bereits Vor- und Zwischenlauf der 200 Meter in den Beinen. Die Zuschauer setzten an diesem Tag alles auf Lewis, alles auf die Jagd nach einem neuen Weltrekord. 8,90 Meter sollten überflogen werden. Gold und der Olympiasieg waren fast selbstverständlich. 

Als Lewis eine große USA-Fahne entdeckt, läuft er auf die Tribüne zu, schnappt sich die Flagge und begibt sich auf die Ehrenrunde. – Foto: imagos images / Sven Simon

Dabei war es gar nicht Carls Ziel auf Rekordjagd zu gehen: „Eine Goldene kommt als erstes, ein Weltrekord als letztes“, lautete sein Motto als Wettkämpfer, weniger als Rekordjäger und seine Strategie für den bevorstehenden Wettkampf klang simpel, aber auch verdammt überheblich: „Meine Strategie wird wie immer sein. Ein mächtiger Satz im ersten Versuch, dann sollen mich die Anderen jagen. Wenn ich noch Lust verspüre, mache ich vielleicht noch einen zweiten Sprung.“ Für die Konkurrenten mag das Einschüchterung genug gewesen sein, für die Fans eine nicht zu akzeptierende Einstellung. Die TV-Spots versprachen den Rekord, also hatte er aus ihrer Sicht auch alles daran zu setzen, dass es passiert.

Knapp 4 Stunden Pause hatte Lewis bis zum Weitsprungfinale. Energie- und Kraftsparend suchte er eine schnelle Entscheidung. Das Finale verzögerte sich aufgrund des Finales im Hammerwerfen. Die Organisatoren hatten aus Angst, dass ein verunglückter Wurf die Weitsprunganlage trifft, den Start einige Minuten nach hinten verlegt. Als Juha Tiainen aus Finnland endlich Gold gewonnen hatte, konnte der Weitsprung beginnen. Als Elfter von Zwölf Startern ist Carl Lewis an der Reihe. Im Stadion wird es ruhig. Gebannt warten die Amerikaner auf den Anlauf. Lewis schaut konzentriert, seine Anlaufmarke steht bei knapp 52 Metern Entfernung zum Absprungbalken. Mit voller Spannung läuft er los, 2,4 Meter pro Schritt, ca. 30,5 km/h schnell. Sein erster Versuch landet bei 8,54 Meter. Mit Abstand der weiteste Satz. 1980, 4 Jahre zuvor, hatte Lutz Dombrowski (Chemnitz/DDR) mit genau dieser Weite Olympisches Gold beim Weitsprung in Moskau gewonnen. Letzter Starter ist Larry Myricks, Lewis´ Teamkollege und der Mann der ihm 3,5 Jahre zuvor die letzte Niederlage in einem Weitsprungwettbewerb beigebracht hatte. 8,06 Meter bedeuten keine Gefahr.

Im zweiten Versuch (8,60) hat Lewis einen Fehlversuch, aber die Konkurrenten sind weit davon entfernt, ihm Gold streitig machen zu können. Daraufhin entschließt sich der Führende, die nächsten Versuche auszusetzen. Lewis zieht seine Spikes aus und nimmt die Rolle des Zuschauers in der ersten Reihe ein. Ungläubiges raunen im weiten Rund. Dabei war das nichts Neues. Schon bei den Trials im Juni 1984 verzichtete Lewis auf die Sprünge 3 bis 6. Im letzten Durchgang sind 10 Springer durch, eigentlich wäre jetzt wieder Lewis an der Reihe, doch er gibt zum ersten Mal die Kontrolle über Sieg oder Niederlage ab. Er verzichtet auch auf seinen allerletzten Versuch und ist dadurch zum warten verdammt. Larry Myricks hat seinen sechsten Versuch noch vor sich.

Die Kontrolle hatte nun Larry Myricks

„Ihm zuzuschauen war verdammt schwer und ich war sehr nervös, weil ich wusste, dass Larry in der Lage war, weit zu springen“, versuchte Lewis hinterher seine Gefühlslage zu beschreiben. Doch es sollte reichen. Zumindest für die zweite Goldmedaille, nicht jedoch für die Liebe und Anerkennung der Zuschauer, die die Verweigerungen Lewis´ mit einem Pfeifkonzert quittierten. Dabei gab es sogar Gemeinsamkeiten zwischen Lewis und der Öffentlichkeit, denn der Athlet ging seine Mission „Gold“ genauso zielstrebig und strategisch an, wie die Öffentlichkeit weit vorher seine Medaillenausbeute geplant hatte. Allerdings war auch diese Entscheidung mit Blick auf den dichtgedrängten Terminkalender durchaus nachvollziehbar. Den Schmerz über die Buhrufe wollte der Geschmähte nicht so recht zugeben, stattdessen demonstrierte er wieder einmal ungebrochenes Selbstbewusstsein: „Ich wurde ausgebuht, weil die Leute mehr von Carl Lewis sehen wollten. In gewisser Weise schmeichelt mir das“, erklärte er auf die Pfiffe angesprochen. Und sein Blick auf den Medaillenstand bestätigte ihn. Halbzeit seiner Herausforderung. 2 Gold gewonnen, 2 Gold stehen noch aus.

Doch, obwohl der folgende Tag ohne Wettkampf für Lewis zur Erholung dienen sollte, wirkte der Champion müde und ausgelaugt. Nach seinen Siegen in den 200 Meter Vor- und Zwischenläufen, er lief 20,48 und 20,27 Sekunden, und dem Weitsprungwettbewerb kamen erste physische und psychische Verschleißerscheinungen. Seine Beine machten sich bemerkbar. „Er wirkt nicht ausgeglichen. Nur Jesse Owens würde verstehen, wie Carl Lewis sich nach den letzten Jahren voller Erwartungen fühlt“, wusste sein Coach Tom Tellez (Houston) zu berichten. Keine Frage: Lewis war der große Favorit, auch in diesem Rennen, dem 200 Meter Finale. Zusammen mit seinen Teamkollegen Kirk Baptiste und Thomas Jefferson waren die Medaillenplätze so gut wie vergeben.

Im Feld der 8 Starter stand mit Ralf Lübke sogar ein Sprinter aus Deutschland im Finale. Ebenso wie der Italiener Pietro Mennea, der als Weltrekordhalter und Titelverteidiger an seinem vierten Olympischen 200 Meter Finale in Folge teilnahm. Mennea schien zu wissen, dass Gold unerreichbar war, dennoch zeigte er Sportsgeist und würdigte Lewis´ Leistungen: „Er kam zu mir, gratulierte zu den bisherigen Siegen und wünschte mir einen guten und schnellen Lauf“, erzählte Lewis nach dem Rennen.

19,80 – Olympic Record!!!

Es ist kurz nach 18 Uhr an diesem 08. August in Los Angeles als die Finalisten das Coliseum betreten. Lewis im blauen Trainingsanzug der USA trägt seine Spikes in der Hand. Sponsor Nike verhalf seinem Arbeitsgerät zum farbigen Glanz seiner Mission: Gold. Irgendwie scheint der Druck, der auf ihm lastet, spürbar. Bahn 7, auf der er starten soll, ist nicht die optimale Position für ihn, der das Feld doch so gerne von hinten aufrollt. Baptiste sieht sich auf Bahn 3 in einem kleinen Vorteil in den Startblöcken sitzend. Doch würde diese Tatsache alleine den Unterschied ausmachen? Schließlich hatte Lewis Wochen vor diesem Finale die 200 Meter Trials souverän in 19,86 Sekunden gewonnen. Eben vor diesem Baptiste und Thomas Jefferson als Drittplaziertem.

Als der Startschuss ertönt, schnellt Lewis aus den Blöcken und geht schneller an als sonst. Er hat keine Favoriten vor sich, an denen er sich orientieren könnte. Doch er findet sofort seinen Rhythmus, beschleunigt weiter und kommt als Erster aus der Kurve auf die Zielgerade. Schon nach den ersten 100 Metern, die er in 10,23 Sekunden herunterspult, hat Lewis 0,18 Sekunden Vorsprung vor Baptiste. Jetzt zieht Lewis das Feld wie eine Ziehharmonika quasi auseinander und lässt auf den letzten 50 Metern keinen Zweifel aufkommen. Nur noch die 4×100 Staffel würde zwischen ihm und seinem großen Traum liegen. Auf der Anzeigetafel leuchtet in großer Schrift 19,80 – Olympic Record. Lewis gewinnt seine dritte Goldmedaille in einem der schnellsten bis dato gelaufenen Rennen über 200 Meter. Und wieder jubelt der gestandene Athlet hüpfend wie ein Pennäler. Nur dieses Mal kann er sein Glück mit Freunden teilen. Zusammen mit Baptiste und Jefferson, die Silber und Bronze gewannen, kniet Lewis auf der Tartanbahn, nimmt seine beiden Kollegen in die Arme und geht zusammen mit ihnen und einer großen Stars and Stripes Flagge in der Hand auf die Ehrenrunde. „Es war großartig die Ehrenrunde mit den Beiden zu laufen und die Fahne nicht nur alleine in den Händen zu halten“, strahlte Lewis. Da war es nur noch eine Winzigkeit bis zur vierten Goldmedaille.

Es lag nun an der Staffel, ob Projekt „4x Gold“ zu einem guten Ende kommen würde. Vorlauf und Zwischenlauf ohne Probleme für die US-Boys. Doch die Ungewissheit eines Staffelrennens beschäftigt Lewis. Dachten viele, er würde nur im Finale starten, wurden sie eines Besseren belehrt. Lewis lief. Nicht weil er seinen Kollegen nichts zutraute, sondern, weil er jedes mögliche Risiko minimieren, und auch dieses Mal nichts dem Zufall überlassen will. „Ich habe 3 unglaublich gute Jungs vor mir“, beschwor Lewis den Teamgeist in den Tagen vor dem Finale. Es liegt nicht mehr nur an ihm alleine. Sein Traum ist abhängig vom Bestehen seiner Partner. Und wenn etwas schief gehen sollte, „wenn jemand den Stab verlieren sollte, dann will er es wenigstens selber sein“, erklärt Coach Tellez.

Besonderer Rückhalt aus dem Team

Seine Teamkollegen ließen ihn hochleben. Carl Lewis hatte sich die Ehrenrunde auf den Schultern seiner Kollegen mehr als verdient. – Foto: imagos images / Werek

11. August 1984, 16:35 Uhr im Coliseum. Der Tag der Entscheidung. „Ich habe gespürt, dass die Jungs mir die vierte Goldmedaille gewünscht haben und das wir gemeinsam den Weltrekord haben wollten.“ Für Einzelkämpfer Lewis der entscheidende Faktor, um Großes zu leisten. Er spürt den Rückhalt, den er braucht. Der Einmarsch der Teams, inszeniert wie der Einmarsch der Gladiatoren. Zuschauer, Offizielle und Läufer sind sich bewusst, das ein ganz besonderer Moment in der Geschichte der Olympischen Spiele bevorsteht. Sam Graddy, Startläufer, Ron Brown, Calvin Smith und dann Carl Lewis. So lautet die Aufstellung der amerikanischen Staffel. Während Graddy und Brown auch schon im 100 Meter Lauf gestartet sind, kommt Smith zu seinem ersten und einzigen Wettkampf in Los Angeles.

Um 16:50 wird das Rennen gestartet. Graddy erwischt einen guten ersten Abschnitt und übergibt an Brown, der die USA weiter in Führung bringt. Carl Lewis nimmt Ausgangs der Kurve seine Position ein und verfolgt das Rennen. Der Wechsel zu Calvin Smith: Perfekt. Smith explodiert, lässt die gesamte Konkurrenz stehen und rennt unaufhaltsam Richtung Lewis. Der steht leicht nach vorne gebeugt an seiner Ablaufposition, blickt unter seiner linken Achsel zurück und nimmt Fahrt auf. Sein linker Arm schnellt zurück, warten auf den Stab, hoffen das alles glatt geht. Dann greift er ihn, wechselt ihn in die rechte Hand und beschleunigt in unnachahmlicher Art und Weise. Gold ist sicher, das ist klar. Doch Lewis weiß, wem er es heute zu verdanken hat. Der Wettkämpfer, der kein Rekordjäger sein wollte bei diesen Olympischen Spielen, ließ seinen Turbo weiter zünden. Kein Gedanke daran verschwendend, dass er die letzten Meter genießen könnte. Er will den Weltrekord. Mehr für seine Kollegen, als für sich. Und als er mit der Brust voran ins Ziel stürmt, geht der Blick sofort hoch zur Anzeige. 37,83 Sekunden – WELTREKORD!!! Der einzige Leichtathletik-Weltrekord dieser Spiele. Seine 100 Meter bestritt er in sensationellen 8,94 Sekunden.

Die Goldjungs fallen sich in die Arme, ihr breites Lächeln könnte die ganze Welt umarmen. Die gemeinsame Ehrenrunde wird zelebriert. In der einen Hand die Flagge, in der anderen Hand ein Luftballon in Form eines Herzens. Ein Geschenk von Lewis´ Schwester Carol, die ebenso stolz war wie ihr Bruder, der soeben zu einer lebenden Legende aufgestiegen ist. Und genau das haben auch die anderen Athleten erkannt und lassen Carl den Großen auf ihren Schultern hochleben. „Das war etwas sehr Besonderes für mich. Daran erinnere ich mich am meisten“, zeigte Lewis einen kleinen Blick in seine Emotionen. Der letzte Akt ging an diesem Abend in L.A. vorüber und ein Mann hat seinen Kindheitstraum gelebt. „Ich habe alles erreicht, nun ist alles vorüber. Ich bin emotional und körperlich sehr müde“, resümiert der Held der Spiele fast nüchtern. „I did it. Ich habe diese Spiele sehr genossen. Das ist die Zeit – die Zeit meines Lebens“.

„Jesse hätte diesen Typen gemocht“

Er hat sein großes Idol eingeholt, Ziele erreicht und Erwartungen erfüllt. David Albritton, bester Freund von Jesse Owens glaubt zu wissen, was das Idol über seinen Nachfolger denken würde: „Jesse hätte diesen Typen gemocht. Owens ist besonders und Lewis ist besonders“. Carl Lewis ist mit den Gedanken an Jesse Owens aufgewachsen, hat ihn verehrt und ihm nachgeeifert. Nach diesen Olympischen Spielen 1984 wird es viele Kinder geben, die von nun an auch ein Idol haben, dem sie es gleichtun wollen. Und dieses Idol wird dann den Namen Carl Lewis tragen. 

Und vielleicht gibt es irgendwann, wieder einmal einen talentierten, selbstbewussten Mann, der sich bei den Olympischen Spielen auf die Spuren begibt. Dieses Mal dann auf die Spuren des Carl Lewis.  (anhe)

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